25. Februar 2015
Der Mensch hat hierfür besondere Voraussetzungen:
Die Interaktion zwischen Individuum und Umwelt reift erst mit der Zeit. Aus dem Meer unbekannter Reize, die nach der Geburt auf das Baby hereinbrechen, ragt alsbald eine erste elementare Bedeutung heraus: Das Stillen des Hungersignals geht nicht nur mit dem Geruch und Geschmack der Milch zusammen, sondern auch mit der optischen, akustischen und sensorischen „Gestalt“ der Mutter. Durch die stetige Wiederholung entsteht ein Muster aus biologischem Bedürfnis und Befriedigungserwartung sowie persönlicher Aufmerksamkeit und motorischer Erregung, das beide Interaktionspartner wahrnehmen: Die Erregung des Kindes angesichts der Mutter und die ausdrückliche Zuneigung der Mutter (im wörtlichen Sinne) kennzeichnen die primäre Beziehung.
Die im Laufe der ersten Monate entstehende Bindung baut auf eine persönlich-exklusive und sehr feine gegenseitige Abstimmung, die dadurch gewinnt, dass beide Partner eine theory of mind entwickeln: Kinder lernen zum einen, dass auch ihr Gegenüber aufgrund von Vorstellungen und Absichten, Bedürfnissen und Wünschen handelt, und zum anderen, dass sich die Perspektive des Gegenübers von der eigenen unterscheiden kann. Richtet sich das Umfeld eines Kindes nicht auf einen angepassten und verlässlichen Austausch aus, dann fehlen ihm verlässliche soziale Erwartungswerte bzw. Bedeutungen: Es entstehen unsichere Bindungen.
Im letzten Jahrhundert fanden sich in Heimen immer wieder emotional „hungernde“ bzw. „ungebundene“ Kinder, und dies wurde auf die dort teilweise deprivierenden Zustände zurückgeführt. Später erkannte man, dass auch Kinder aus Krisengebieten wie Eritrea diese Symptome entwickeln. Im Jahre 1980 wurden Bindungsstörungen in die Diagnose-Klassifikation DSM III aufgenommen. Im ICD 10 und im DSM IV wird ein Beginn vor dem fünften Lebensjahr gefordert. Die Dauer der Deprivation spielt eine wichtige Rolle: Eine Bindungsstörung entwickelten nur 10 Prozent Kinder, die in den ersten 6 Monaten aus einem schlechten Heim heraus adoptiert wurden. Über 30 Prozent waren betroffen, wenn sie erst mit zwei bis vier Jahren aus einem derartigen Heim heraus adoptiert wurden. Dies kann später durch eine engagierte Bezugsperson ausgeglichen werden, allerdings nur teilweise, da für die Bindungskompetenz eine sensible Phase angenommen wird. (Es ist dabei zu betonen, dass bindungsgestörte Kinder heute weit überwiegend aus Familien stammen, in denen deprivierende Zustände herrschen. Diese Kinder werden häufig institutionalisiert erzogen.)
Existieren keine für das Baby identifizierbaren Bindungspersonen, dann lernt es nicht, selektiv Bindungen aufzunehmen; es geht unterschiedslos auf Bekannte wie Fremde zu und wirkt sozial enthemmt. Ein Sekundärsymptom ist die Anspannung bzw. Verzweiflung der Umgebung, wenn sie immer wieder vergeblich versucht, eine Verbindung zu dem betreffenden Kind aufzunehmen. Die Bindungsstörung mit Hemmung ist weniger klar definiert und empirisch fundiert. Diese Diagnose wird verwendet, wenn Kinder schon eine familiäre Bindung entwickelt hatten, bevor sie – meist nach schwerer Misshandlung – von ihren Eltern getrennt wurden. Sie scheuen bzw. ängstigen sich vor Fremden und wirken beziehungslos-gleichgültig, ihnen misslingt ebenfalls die Bindungsaufnahme und soziale Interaktion; darüber hinaus kann hoch-ambivalentes, vermeidendes oder aggressives Verhalten auftreten. Nicht selten werden Kinder sowohl vernachlässigt als auch misshandelt, so dass sie einerseits ängstlich, andererseits auch enthemmt erscheinen.
Diagnostik
Die Diagnose einer Bindungsstörung erfordert den Nachweis der Symptome und früher deprivierender Entwicklungsbedingungen. Zur Sicherung der schwerwiegenden Diagnose einer frühen Vernachlässigung sollte die Entwicklungs- und Sozialanamnese aus mehreren unabhängigen Quellen stammen. Eine Reihe von Kriterien sollten systematisch beobachtet werden. (Dabei ist zu berücksichtigen, dass der klinische Rahmen und der aktuelle Entwicklungsstand das Kontakt- und Bindungsverhalten erheblich beeinflussen. So wendet sich ein Kleinkind immer eher an Fremde, wenn Mutter oder Vater abwesend sind.) Gibt es enthemmtes (physischer Kontakt, ins Private gehende Fragen, andere Grenzüberschreitungen) oder gehemmtes Verhalten? Gibt es jemanden, den das Kind aufsucht, wenn es ihm nicht gut geht? (Kinder, die unter Belastung niemanden aufsuchen, haben eine erheblich schlechtere Prognose.) Tritt das Verhalten in Abwesenheit oder nur in Anwesenheit der Bezugsperson auf? Wie ist die Störung bisher verlaufen? Wann (d. h. auch unter welchen Umständen) traten die Symptome regelmäßig auf? Gab es Veränderungen? Was wurde angesichts der Auffälligkeiten bisher versucht?
Differenzialdiagnostik
Die folgenden Störungen werden abgegrenzt:
Behandlung
Wird die elterliche Sensitivität gesteigert, dann profitiert die Bindungssicherheit des Kindes (MAGIATI, CHARMAN, HOWLIN 2007). Erfolgreiche Gruppenprogramme beeinflussen die Familieninteraktionen unmittelbar. Sie arbeiten an der elterlichen Feinfühligkeit und mitunter an elterlichen Vorstellungen: Wie empfanden die Eltern ihre eigene Kindheit? Was bedeutet das kindliche Verhalten oder der Kontakt für die Erziehungsperson? Elterngruppen und Videoarbeit sind nachweisbar hilfreich. Nicht evaluierte Programme, z. B. „Haltetherapie“ (teilweise nicht durch die Eltern, sondern durch die Therapeuten durchgeführt) widersprechen einer feinfühligen Zuwendung. Eine stationäre Behandlung sollte angedacht werden, wenn andere Programme nicht angeboten werden oder sich als erfolglos erwiesen haben, oder wenn zusätzliche Störungen dies erfordern. Bindungsgestörte Kinder fordern ihre Bezugspersonen (Adoptiv- und Pflegefamilien, Heimmitarbeiter) erheblich. Wie diese entlastet werden können, ist nicht systematisch erforscht. Elementar ist eine gute Kooperation zwischen Erziehung, Therapie und Bildung (Kindergarten, Schule, Ausbildung).